Von Raza Syed (London) und Lolisanam Ulugova (London)
Die Frage, ob Atomwaffen in Islam halal (erlaubt) oder haram (verboten) sind, stellt eine der tiefgreifendsten ethischen Herausforderungen der Moderne dar – einen Moment, in dem uralte religiöse Prinzipien auf eine Technologie der endgültigen Vernichtung treffen. Dieser Streit ist kein bloß akademisches Gedankenspiel der angewandten Theologie; er ist ein heiliger Kampf um die Seele der islamischen Tradition, der sowohl in den Machtzentren muslimischer Mehrheitsstaaten als auch im Gewissen der weltweiten Ummah ausgetragen wird. Die Kernfrage lautet unverblümt: Kann die grundlegende islamische Ethik der Zurückhaltung, Barmherzigkeit und der Unantastbarkeit des Lebens mit der Logik apokalyptischer Abschreckung vereinbar sein?
Die rechtswissenschaftliche Landschaft zeigt ein klares, wenn auch unbequemes Grundkonsens: Während ein sehr enger Argumentationsstrang den Besitz von Atomwaffen zur reinen Verteidigungsabschreckung für zulässig hält, erklärt die überwältigende Mehrheit der islamischen Rechtsgelehrsamkeit, Ethik und Gelehrtenwelt jede denkbare Anwendung solcher Waffen für kategorisch unzulässig und als schwere Übertretung göttlichen Gebots.
Der heilige Rahmen: Verbot der Überschreitung und Schutz des Lebens
Um dieses moderne Dilemma zu bewältigen, kehren die Gelehrten zu den unveränderlichen Quellen des islamischen Rechts zurück – dem Koran und der Sunna (Überlieferungen des Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm). Diese legen eine kompromisslose Kriegführungsethik fest, die auf den Prinzipien der Unterscheidung, Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit beruht.
Der zentrale koranische Befehl ist eindeutig: „Kämpft auf dem Weg Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht die Grenzen. Gott liebt nicht die Übertreter.“ (Sure 2:190) Das arabische „la taʿtadū“ (übertretet nicht) wird als umfassendes Verbot von Angriffskriegen, der gezielten Tötung von Nichtkombattanten und unverhältnismäßiger Gewalt verstanden. Der Prophet gab seinen Truppen die klare Anweisung: „Tötet weder Greise, noch Kleinkinder, noch Frauen.“ Die Heiligkeit unschuldigen Lebens wird zur universalen Norm erhoben: „Wer eine Seele tötet – es sei denn für eine Seele oder für Verderben auf Erden –, so ist es, als hätte er die Menschheit insgesamt getötet.“ (Sure 5:32)
Diese Prinzipien der Zurückhaltung wurden bereits vom ersten Kalifen Abu Bakr institutionalisiert: Soldaten durften weder Frauen, Kinder, Alte, Mönche, Vieh noch fruchttragende Bäume schädigen. Ziel der Gewalt ist ausschließlich militärische Notwendigkeit – niemals sinnlose Zerstörung. Genau hier entsteht ein unauflösbarer Widerspruch zu Atomwaffen, deren Druckwelle, Hitze und radioaktiver Fallout von Natur aus unterschiedslos wirken, keine Unterscheidung zwischen Soldat und Kind treffen und generationenübergreifende Umweltzerstörung (fasād fi-l-arḍ) verursachen.
Das Abschreckungsargument: Eine sehr enge Rechtfertigung für den Besitz
Wie konnten dennoch einige muslimische Staaten und Gelehrte den Erwerb von Atomwaffen rechtfertigen? Der zentrale theologische Anker ist ein einziger Koranvers: „Und rüstet gegen sie, was ihr an Kräften und an kampfbereiten Pferden (heute: Kriegsgerät) aufzubieten vermögt, um damit die Feinde Gottes und eure Feinde abzuschrecken.“ (Sure 8:60)
Dieser Vers wird zur Begründung der Abschreckung (radʿ) herangezogen. Aus dieser Sicht ist der Aufbau überwältigender militärischer Stärke – in der Moderne auch Atomwaffen – zur Verhinderung eines größeren Krieges ein erlaubter, ja sogar verpflichtender Akt der Gemeinschaftsselbstverteidigung. Die Logik ist strategisch: Eine glaubwürdige Vergeltungsdrohung sichert Frieden und schützt die Souveränität der Ummah.
Allerdings ist diese Erlaubnis extrem eng gefasst und fast ausnahmslos mit einem entscheidenden Vorbehalt verbunden: Der Ersteinsatz von Atomwaffen ist absolut haram – er wäre ein nicht provozierter Angriff und eine katastrophale Verletzung des Gebots „la taʿtadū“. Der Graubereich existiert daher nur beim reinen Besitz zur Abschreckung, während die tatsächliche Anwendung jenseits jeder islamischen Zulässigkeit bleibt.
Das Verbotsargument: Die unüberwindbare ethische Barriere
Die weitaus stärkere und dominierende Gelehrtenposition erklärt Atomwaffen wegen ihrer unterschiedslosen und unverhältnismäßigen Natur für grundsätzlich unvereinbar mit dem islamischen Recht. Hier geht es nicht mehr um Absicht, sondern um die inhärenten Eigenschaften der Waffe selbst.
Der Hauptvorwurf: Atomwaffen können ihrem Wesen nach das islamische Unterscheidungsgebot nicht einhalten. Sie löschen die Grenze zwischen Kombattant und Nichtkombattant aus. Ihre Langzeitfolgen – Strahlenvergiftung, genetische Schäden, Umweltvernichtung – stellen eine Form der „Verderbnis auf Erden“ dar, die künftige Generationen trifft und dem koranischen Verbot des Unheilstiftens (Sure 2:205) direkt widerspricht.
Daraus hat sich ein mächtiger Konsens unter zeitgenössischen islamischen Gelehrtenkörperschaften herausgebildet. Institutionen wie die Internationale Islamische Fiqh-Akademie der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) sowie führende Autoritäten wie die ägyptische Al-Azhar erklären Massenvernichtungswaffen einschließlich Atomwaffen für verboten. Sie seien „an sich böse“ und ihre Anwendung „ein Verbrechen gegen die Menschheit“, unvereinbar mit dem humanitären Ethos des Islam und den höheren Zielen der Scharia (maqāṣid asch-scharīʿa).
Fallbeispiele im Widerspruch: Die Fatwa und die „Islamische Bombe“
Iran und die strategische Fatwa Seit zwei Jahrzehnten wird die iranische Außenpolitik durch eine Fatwa des Obersten Führers Ajatollah Ali Chamenei geprägt, die Atomwaffen für haram erklärt. Öffentlich verbietet sie Herstellung, Lagerung und Einsatz. Kritiker sehen jedoch eine kalkulierte strategische Ambiguität: Der Fokus liegt auf dem Verbot des Einsatzes, während die Schwelle zur „Herstellung“ bewusst vage bleibt. Diese Doppeldeutigkeit zeigte sich 2021, als der damalige Geheimdienstminister Mahmud Alavi sagte: „Der Oberste Führer hat gesagt … Atomwaffen sind gegen die Scharia … aber eine in die Ecke getriebene Katze verhält sich anders.“
Pakistan und die Doktrin der „islamischen Abschreckung“ Pakistan, der einzige muslimische Atomwaffenstaat mit offener Deklaration, verkörpert das Abschreckungsargument in der Praxis. Angesichts des atomar bewaffneten Indiens wird das Programm von Teilen der pakistanischen Öffentlichkeit und Gelehrten als notwendige „islamische Bombe“ zur Verteidigung der Ummah gerechtfertigt. Die Legitimation stützt sich auf darūra (Notwendigkeit) und Sure 8:60. Pakistan betont eine No-First-Use-Politik – theoretisch vereinbar mit dem Verbot der Aggression. Dennoch bleibt die ethische Unruhe unter vielen Gelehrten weltweit groß.
Fazit: Eine ethische Führungsaufgabe und Abrüstungsimperativ
Das islamische Urteil über Atomwaffen ist kein einfaches Ja/Nein. Es lautet vielmehr: Ein hochgradig umstrittener, politisch belasteter und extrem enger Erlaubnisraum für den Besitz zur Abschreckung – in permanenter Spannung mit einem nahezu absoluten theologischen und ethischen Verbot des Einsatzes.
Die ethische Entwicklung im globalen islamischen Diskurs tendiert jedoch eindeutig Richtung Verbot und Abrüstung. Von den offiziellen Beschlüssen großer Gelehrtenakademien bis hin zu interreligiösen Erklärungen bei den Vereinten Nationen wächst die Erkenntnis: Die Logik nuklearer Abschreckung steht im grundlegenden Widerspruch zum Auftrag, „künftige Generationen zu schützen“ und die Heiligkeit der Schöpfung Gottes zu wahren.
Die eigentliche Aufgabe muslimischer Gelehrter, Intellektueller und Politiker besteht darin, diesen ethischen Diskurs zu vertiefen und ihn aus der Pragmatik strategischer Machtpolitik zu entreißen. Wahre Sicherheit für die Ummah und die gesamte Menschheit liegt nicht im Gleichgewicht des nuklearen Terrors, sondern im mutigen, gläubigen und dringenden Streben nach Frieden, Gerechtigkeit und vollständiger Abrüstung.
Hinweis: Dieser Artikel wurde Ihnen präsentiert von der London Post in Zusammenarbeit mit INPS Japan und Soka Gakkai International (beratender Status bei UN-ECOSOC).
